Die meisten Menschen kommen mit Nidra in Kontakt als eine Form von angeleiteter Meditation im Liegen. Das ist wahrscheinlich, wovon du gehört hast, oder was du bereits praktiziert hast.
Durch tiefe Entspannung in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen zu kommen und durch diese tiefe Entspannung zu Ebenen des Unterbewusstseins vordringen, die uns im Alltag nicht zugänglich sind. Und wenn wir schon mal dort sind, gleich auch positive Glaubenssätze ins Unterbewusstsein zu programmieren.
Zum einen ist das sehr kurz gegriffen. Nidra ist all das, aber vor allem noch so viel mehr. Sowohl an Technik als auch an Hintergrund, den es zu beachten gilt, um diese Praxis und Tradition wirklich voll auskosten zu können.
Zum anderen sind auch die einzelnen Elemente des Nidra, wie ich sie eben angedeutet habe, häufig sehr oberflächlich oder komplett missverstanden. Wie zum Beispiel die Verwendung eines Sankalpa – die Verwendung von Glaubenssätzen. Das führt dazu, dass die Praxis auch entsprechend oberflächlich bleibt und in vielen Fällen zu einer bloßen Entspannungsübung verkümmert.
Was heißt Nidra?
Widmen wir uns zunächst kurz der Bedeutung des Wortes Nidra, bevor wir tiefer in die Philosophie und Praxis einsteigen.
Nidra wird am häufigsten mit “Schlaf” übersetzt. Und eine Menge an Deutungsversuchen orientieren sich an dieser Übersetzung – z.B. die häufige Verwendung von “Der Schlaf des Yogi” oder “der yogische Schlaf”. Diese Übersetzung ist allerdings etwas ungünstig, weil sie viele falsche Assoziationen weckt. Vor allem, dass es sich bei Nidra um einen unbewussten Prozess oder einen Prozess, der in die Unbewusstheit führt, handelt.
Eine weitere wichtige Bedeutung finden wir in vielen Schriften, in denen Nidra mit dem höchsten Zustand des Yoga, der “Erleuchtung” oder “dem überbewussten Zustand” gleichgesetzt wird.
Ein besonders schönes und wichtiges Beispiel finden wir in der Schrift Devi Mahatmyam (Der Lobgesang der Göttin). In der ersten Geschichte, die in dieser Schrift von dem Weisen Medha erzählt wird, legt sich Vishnu auf Ananta der Weltenschlange zur Ruhe, um einen neuen Schöpfungszyklus zu träumen. Der Schlaf, in den er sich legt und das, was ihn in seinem Schlaf hält, ist die Göttin Yoga Nidra.
Vishnu schläft also und beginnt zu träumen und aus seinem Nabel erwächst ein Lotos, in dessen Blütenkelch Brahma, der Schöpfer der Welt, weilt. Doch bevor Brahma sich daran machen kann, die Welt zu erschaffen, erscheinen zwei Dämonen – Madhu und Kaithaba – mit dem Ziel, Brahma zu töten und den neuen Schöpfungszyklus zu verhindern.
Der wehrlose Brahma fleht Vishnu an, aufzuwachen, um ihm zu helfen, doch muss er schnell erkennen, dass es eine Kraft gibt, die stärker ist als Vishnu selbst. Die Göttin Yoga Nidra. Und so wendet er sich in einer Hymne an die Göttin und bittet sie, Vishnu aus seinem Schlaf zu wecken. Natürlich gewährt sie ihm den Wunsch und Vishnu erwacht und erschlägt nach langem Kampf die beiden Dämonen.
Nidra ist zum einen das, was uns im Schlaf hält, also das, was uns davon abhält, die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist. Aber auch jenes, das uns über die Begrenztheit hinausführt. Hin zur Wirklichkeit der Welt.
Gehen wir sprachlich weiter zurück als das gelehrte Sanskrit, so können wir Nidra weiter auseinandernehmen. Wir finden die beiden Silben “n” und “dr”. “n” steht für die Dunkelheit und “dr” steht für das hindurchgehen (auf einer Zeitachse). Durch die Dunkelheit hindurchgehen. Die Dunkelheit steht hierbei symbolisch für die Ignoranz. Also das, was uns davon abhält, die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist.
Wir können Nidra also als ein Instrument verstehen, das uns dabei hilft, die Welt zu sehen und zu erfahren, wie sie wirklich ist.
Wie funktioniert Nidra?
Wie funktioniert dieses Instrument? Ein wichtiges Grundkonzept des Nidra ist, das die Welt wahrzunehmen, über sie nachzudenken, mit ihr zu interagieren, egal auf welcher Ebene, eine Form von Anspannung ist.
Wann immer wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren und auf etwas bestimmtes richten – egal ob im Außen oder in uns -, kostet das Kraft und Energie und führt zu einer Anspannung. Das ist etwas, was uns in unserem Alltag kaum oder gar nicht bewusst ist. Wann immer wir z.B. einem Gedanken nachhängen und entsprechend unsere Aufmerksamkeit auf ihn fokussieren, erzeugen wir eine kleine Anspannung. Da Gedanken so leicht und flüchtig und vor allem alltäglich sind, fällt uns das aber gar nicht mehr auf.
Und genau darum geht es im Nidra. Nidra hilft uns dabei, feinfühlig zu werden für all die Energie, die wir aufwenden, um die Idee der Persönlichkeit zu erhalten. Achtsam zu werden, dafür, wo und wofür wir Kraft aufwenden. Im Grunde ist das das Ziel aller Formen des Yoga. Nidra geht hier einen besonderen Weg, indem es die Praxis auf den Kopf stellt. Es geht darum, nichts zu tun, um nichts zu erreichen. Denn alles ist bereits da. Wir müssen lediglich aufhören, uns davon abzuwenden.
Letztlich hilft das Bewusstmachen vor allem dabei, die eigentlichen Ursachen unserer Anspannung zu identifizieren. Wann immer ich feststelle, dass ich einen verspannten Nacken habe, wird mir auch recht schnell klar, dass die Ursache dafür nicht eine ungesunde Haltung ist oder dass ich mich im Schlaf verlegen habe. Sondern dass ich mich vielleicht gerade sehr stark unter Druck setze, weil mein nächstes Video fertig werden muss, oder ich noch einen Workshop oder Kurs vorbereiten muss und – mal wieder – alles bis zum letztmöglichen Termin aufgeschoben habe.
Auf dieser tieferen und fundamentalen Ebene loszulassen, erlaubt es, das Problem auf einer grundsätzlichen Ebene zu lösen, anstatt Symptome zu bekämpfen. Jiddu Krishnamurti hat einmal gesagt: “Du kannst ein Problem nicht auf der Problemebene lösen. Bestenfalls ersetzt du es durch ein neues Problem. Schlimmstenfalls hast du zwei Probleme.”
Um besser zu verstehen, wo die Ursachen für die Anspannungen in unserem Sein zu finden sind, können wir das Modell der Panca Koshas verwenden. Die fünf Hüllen, die das wahre Selbst umgeben. Diese sind – vom Groben zum Feinen – der physische Körper, der sogenannte Energiekörper, die Emotionen, der Verstand und schließlich das Unterbewusstsein. Jede Anspannung auf einer Ebene wird sich in Richtung der grobstofflicheren Ebenen solange bemerkbar machen, bis wir gezwungen sind sie wahrzunehmen.
Wenn wir zum Beispiel traurig sind, geht das häufig einher mit einem generellen Energiemangel – wir fühlen uns schlapp und Antriebslos. Dazu kommt dann meistens eine entsprechende Körperhaltung. Würden wir nun einfach versuchen uns “gerade zu machen“, um einigermaßen anständig durch den Alltag zu kommen, so haben wir zwar erfolgreich das Symptom behandelt, aber die eigentliche Ursache wartet weiter darauf, Beachtung zu bekommen.
Bezogen auf die Nidra Praxis bedeutet das, dass wir ähnlich einer progressiven Muskelentspannung durch alle Ebenen der Persönlichkeit gehen. Jeder Ebene Aufmerksamkeit – Bewusstsein – geben, um dann bewusst loszulassen.Um beim Beispiel von eben zu bleiben. Wir gehen durch den Körper und nehmen erst einmal nur wahr, was da ist. Ohne etwas damit zu tun, lösen wir uns davon. Das Gleiche tun wir mit unserem Energiekörper. Wir nehmen wahr, was da ist und lassen es gehen.
So geht die Praxis durch alle Bereiche der Persönlichkeit und erlaubt es uns, gezielt wahrzunehmen, was gerade da ist und solange loszulassen, bis die tieferen Ursachen unserer Persönlichkeit zum Vorschein kommen.
Über diesen Prozess kann es uns gelingen, nach und nach immer tiefgreifender loszulassen. All die Anspannungen und Anhaftungen der einzelnen Ebenen der Persönlichkeit – und sei es nur für einen kurzen Moment – zu entspannen und loszulassen. Und so die Welt zu erfahren, wie sie wirklich ist. Frei von den Filtern und Konzepten, durch die wir die Erfahrung der Welt filtern und uns damit von ihr entfernen.
Der wichtige Punkt in dieser Überlegung ist: Die Entspannung im Nidra ist nicht das Ziel der Praxis, sondern das Mittel zum Zweck. Entspannung im Nidra ist die Praxis, die uns tief in uns selbst und damit zur Wirklichkeit führen kann.
Was ist die „Wirklichkeit“?
Ich habe viel davon gesprochen, dass das Ziel der Praxis ist, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Aber was bedeutet das?
Nidra hat seine Wurzeln im klassischen Tantra und eine Grundüberlegung des Tantra ist, dass alles eins ist, dass es nur eine unteilbare Wirklichkeit gibt. Advaita, nicht zwei. Die Konsequenz, die Tantra daraus ableitet, ist, dass alles, was ist, notwendigerweise göttlich ist. Es gibt nichts, was mehr oder weniger göttlich ist.
Diese grundsätzliche Einheit aller Dinge ist keine abstrakte, philosophische Idee, sondern die erfahrbare Wirklichkeit, die unserem Erleben zugrunde liegt. Sprich, etwas was immer da ist, was wir aber selten als solches wahrnehmen. In diesem Sinne gibt es nichts zu erreichen, nichts zu bekommen oder zu wollen.
Häufig stellen wir uns Erleuchtung oder Befreiung als etwas vor, das außerhalb von uns existiert. Etwas, das wir jetzt nicht haben und wofür wir etwas tun müssen, um es zu bekommen. Oder schlimmer, dass das, was jetzt ist, ersetzt werden muss durch irgendeine Erfahrung von “Erleuchtung”.
Es gibt den schönen Begriff Pratyabhijna, der für eine bestimmte philosophische Strömung innerhalb des Tantra steht.Er bedeutet: Wiedererkennen. Wenn wahrnehmung und wissen im gleichen Augenblick zusammen komemn. Und genau darum geht es. Nidra soll uns helfen, dadurch dass wir die einzelnen Ebenen der Persönlichkeit entspannen und damit all die Widerstände gegen die wirkliche Natur der Welt zu entspannen, um schließlich wiederzuerkennen, was wir immer schon gewesen sind.
Die Wirklichkeit ist nichts Neues, Unbekanntes. Sie ist der Urgrund aus dem unsere gesamte Erfahrung, sogar die Erfahrung von individueller Persönlichkeit hervorgeht. Uns in diese Wirklichkeit hinein zu entspannen – denn was können wir anderes tun, als alles so sein zu lassen wie es ist – ist die Praxis von Nidra.
Nidra ist mehr…
Nidra ist also viel mehr als eine Entspannungstechnik, selbst als eine liegende Meditation. Die bekannten Formen des Nidra und auch all die Ausbildungen, die es heutzutage zum Nidra gibt, beziehen sich auf die “äußeren” Techniken. Ein relativ kleiner Teil der Nidra Praxis.
Nidra ist eine jahrhunderte alte mündlich überlieferte Praxis, in der es auf den tieferen Ebenen darum geht, die wirkweisen des Geistes und der Persönlichkeit zu verstehen und die Regungen des Geistes bewusst wahrnehmen zu können um sie dann loszulassen. Es ist eine sehr feine Arbeit, die zu einer tiefen Transformation führt, die in jeden Winkel des Erlebens in der Welt hinein wirkt.
Schließlich geht es in der Nidra Praxis nicht darum, etwas zu erreichen, sondern die Welt in all ihren Facetten anzunehmen und in die Schönheit und Freude des Fluss’ des Lebens einzutauchen. Dies stellt gleichzeitig die höchste Form des Nidra dar. Sich bewusst fallen zu lassen, in den Fluss des Lebens und diese Erfahrung tiefen Eins-Seins Lehrer sein zu lassen.
Wenn du noch tiefer in Nidra eindringen und deine Praxis auf ein neues Niveau bringen möchtest, melde dich direkt zu meinem „5 Minutes of Nidra Newsletter“ an. Erhalte einmal die Woche einen tiefgreifenden Artikel zu einem Nidra Thema direkt in dein Postfach.