Yoga Nidrā ist den meisten Praktizierenden bekannt als eine relativ einfache Abfolge verschiedener Entspannungs-, Atem- und Konzentrationstechniken. Die Bekanntheit dieser Techniken und die Vermarktung dieser spezifischen Techniken unter dem Namen Yoga Nidrā, haben dazu geführt, dass Yoga Nidrā fast ausnahmslos mit diesen Techniken identifiziert wird und dadurch die reiche und vielfältige Tradition von Nidrā kaum bekannt ist.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich dieser Tradition zu nähern. In diesem Artikel betrachten wir Nidrā aus der Perspektive der vier Wege oder Arten der Praxis (upāyas) der Śaiva Tantra Tradition aus der Nidrā hervorgegangen ist.
- Āṇavopāya – Der Weg des Handelns
- Śāktopāya – Der Weg des Wissens
- Śāmbhavopāya – Der Weg der Willenskraft
- Anupāya – Der pfadlose Pfad
Dadurch wird klarer, welchen Stellenwert die Praxis des Nidrā, wie es heute überwiegend praktiziert wird, hat und – vor allem – um wieviel weiter die Praxis von Nidrā gefasst werden kann und damit auch, was das höhere Ziel von Nidrā Praxis über Entspannung hinaus ist.
Āṇavopāya – Der Weg des Handelns
Āṇavopāya bezeichnet den Weg des “beschränkten Wesens” – von āṇava, sich auf das beschränkte Wesen beziehend. Der Zustand, auf den sich dieser Pfad bezieht, ist die Erfahrungswelt des getrennten Seins. Ich und Nicht-Ich. Ein Zustand, in dem die Identifikation mit Körper und Geist voll ausgeprägt ist.
Dies ist der Pfad bzw. die Form, die die meisten Menschen, die von Nidrā gehört haben oder Nidrā praktizieren, mit dem Begriff Yoga Nidrā assoziieren. Hierbei handelt es sich um die sogenannten “äußeren” Techniken, in denen es darum geht, die Identifikationen mit dem “Außen” zu entspannen und zu lösen.
Nehmen wir als Beispiel die bekannteste Übung des Nidrā: das Kreisen des Bewusstseins. In dieser Übung geht es darum, die Wahrnehmung systematisch über verschiedene Teile des Körpers wandern zu lassen. Der Effekt dieser Übung erfolgt auf drei Ebenen:
- Wir kommen in die Position des Beobachters. Dadurch ist es möglich, sich Selbst als getrennt vom Körper wahrzunehmen und den Körper als “äußeres” Objekt statt eines integralen Teils meines Selbst zu betrachten.
- Wir können den Körper als “nicht lokalisiert“ erfahren. Unsere alltägliche Wahrnehmung des Körpers beinhaltet eine konkrete Form mit konkreten Grenzen des physischen Körpers. In Nidrā können wir über die Ausdehnung des Bewusstseins die Erfahrung machen, dass diese vermeintlich objektiven Grenzen nur Konzepte und Ideen, aber nicht die Wirklichkeit sind.
- Wir können einen Zustand erfahren, der nicht durch die Erfahrung eines physischen Körpers geprägt bzw. gefiltert ist. Da der physische Körper in tiefer Entspannung ruht, können wir die Welt so erfahren, wie sie wirklich ist, reines Bewusstsein, ungetrübt von den Erfahrungen des “Außen”.
Auf die gleiche Art und Weise können alle anderen Aspekte des Körper-Geist-Komplexes erfahren und zur Ruhe gebracht werden. Durch diese umfassende Erfahrung von Entspannung besteht die Möglichkeit alle Instanzen die unsere Empfindung der Wirklichkeit beeinflussen – Körper, Energien, Emotionen, Geist und Karma – zumindest für einen Augenblick beiseite zu legen und die Welt zu betrachten wie sie wirklich ist und die beschränktheit des Wesens zu überwinden.
Śāktopāya – Der Weg des Wissens
Auf der Ebene von Śāktopāya – von Śākti, Kraft/Energie bzw. das verneinende Prinzip – geht es um die “Reinigung des Geistes” (shuddha vikalpa). Was bedeutet das für die Praxis?
Für Menschen, die auf diesem Pfad praktizieren, gab es wahrscheinlich bereits Erfahrungen der Wirklichkeit. Aber trotz dieser Erfahrung kehren sie wieder zurück in ein Erleben der Welt, als getrennt von sich. Sprich, das Konzept der Welt als getrenntes Phänomen ist noch so tief verankert, dass die schöpferischen, nach außen strebenden Energien von der Weite des reinen Bewusstseins wieder in die Enge des begrenzten Bewusstseins führen.
Es geht also darum, diese Konzepte (oder Anhaftungen) aufzulösen. Jedes dieser Konzepte wird im Nidrā als eine Anspannung, ein Zusammenziehen der Wirklichkeit betrachtet. Über das Verständnis der Funktionsweise des Geistes, gelingt es uns, diese Anspannungen nach und nach zu lösen.
Das kann zum einen durch Studium – mit den klassischen Techniken des Jñāna Yoga – erreicht werden. Wobei jedoch ein feiner Unterschied zum Yoga besteht. Wie in allen Bereichen des Nidrā geht es nicht darum, aktiv gegen gedankliche Konzepte anzugehen (z.B. durch Konzentration oder Affirmation), sondern sich durch Entspannung von der Bindung an sie zu lösen.
Die zweite wesentliche Technik dieses Pfades ist die Verwendung von Mantra. Mantra steht dabei für eine “Wahrheits-Aussage”. Ein Satz oder Wort, welches die Wirklichkeit widerspiegelt, wie z.B.
śivo’ham
Ich bin Shiva (reines Bewusstsein)
Das Entspannen in die Bedeutung und den Klang des Mantra hinein erlaubt es, die Wirklichkeit, auf die das Mantra hinweist, direkt auf verschiedenen Ebenen des Seins zu erfahren. Je tiefer das Loslassen, desto näher an die Wirklichkeit kann das Mantra führen. Und desto mehr lösen sich die Anhaftungen an Ideen und Konzepte, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, auf.
Darüber hinaus gibt es noch weitere Möglichkeiten, mit Mantra zu arbeiten. Z.B. mit den Vibrationen und Klangschwingungen, aber diese Techniken sind schwer zu beschreiben und erfordern die Unterweisung durch einen Lehrer, der mit diesen Techniken vertraut ist.
Śāmbhavopāya – Der Weg der Willenskraft
Auf dem göttlichen Pfad – von Śāmbho, der der Liebe und Freude bringt – besteht die Praxis darin, in reinem Bewusstsein zu verweilen. Das setzt natürlich voraus, dass der oder die AspirantIn dazu in der Lage ist sehr bewusst in diesen Zustand hinein zu entspannen.
Die Technik selbst wird hier zunehmend unwichtig, da sie nur noch ein kurzer Zwischenschritt zum Verweilen in reinem Bewusstsein ist. Die Meditationstechnik Sakshi Bhav II, die fortgeschrittene Form des Zeugen-Bewusstseins, verfolgt das gleiche Ziel, wenn auch auf eine etwas andere Art und Weise.
Der Weg des Nidrā ist es, die Kraft zu erkennen, die das Bewusstsein nach außen streben lässt und diesen Impuls der Willenskraft (icchā) zu entspannen. Der wesentliche Punkt auf diesem Pfad liegt in der Anstrengungslosigkeit. Die Erkenntnis, dass jegliche Form von Anstrengung zu Anspannung und damit Verhaftung führt. Also zu dem hin, was uns nach außen führt.
Anupāya – Der pfadlose Pfad
Der pfadlose Pfad oder der “Nicht-Pfad” – das Präfix “a” verneint “upāya”. Dies stellt keinen Pfad im Sinne der anderen drei Pfade dar, da es keine Praxis gibt. Die AspirantIn wird sich hier direkt des reinen Bewusstseins, ihrer wahren Natur bewusst. Das kann z.B. durch die Initiation durch einen geeigneten Guru geschehen in der dieser seine eigene Verbindung zum wahren Selbst mit der AspirantIn teilt, oder die AspirtantIn durch einen Akt der Gnade (Anugraha) das wahre Selbst erfährt.
Letztlich ist dies die ultimative Form der spontanen Entspannung. Ein unwillkürliches, völliges Loslassen, in dem alle Anhaftungen und Konzepte wegfallen und nur das Strahlen des reinen Bewusstseins übrig bleibt.
Fazit
Nidrā ist weitaus mehr und weitaus tiefer als den meisten Praktizierenden bewusst ist. Und es lohnt sich, in die Tiefen dieser Tradition vorzudringen und den einzigartigen “Yoga der Entspannung” zu begreifen und in das eigene Leben zu integrieren. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, wie sehr die Auseinandersetzung mit Nidrā meinen Yoga und mein gesamtes Leben bereichert und vertieft hat.